In Deutschland hat sich über Jahrzehnte eine mediale Tradition etabliert, die schwerwiegende Probleme von Individuen – wie zum Beispiel von Verbrauchern – systematisch relativiert. Statt die eigentlichen Verantwortlichen, nämlich Staat und Unternehmen, kritisch zu beleuchten und zur Verantwortung zu ziehen, werden diese häufig geschont. So entsteht in der Berichterstattung ein Bild, das ernsthafte Missstände wie etwa den Schutzmangel vor Internetbetrug als unvermeidbare „Nebenwirkungen“ oder „Risiken“ darstellt, die man als Einzelner eben hinzunehmen habe. Zwar wird das Problem nicht geleugnet, doch lässt sich in ihrer Berichterstattung eine deutliche Tendenz zur Relativierung und Beschwichtigung beobachten. Die Schwere und der strukturelle Charakter der Problematik werden sprachlich und inhaltlich abgeschwächt. Häufig ist von „machtlosen Opfern“ die Rede, von „Vorfällen, die hin und wieder passieren“ oder von „Risiken, die einfach dazugehören“. Diese Formulierungen vermitteln eine gefährliche Botschaft: Betrug im Internet sei ein alltägliches und unvermeidbares Risiko, gegen das man sich als Einzelner eben wappnen müsse. So nach dem Motto: „In anderen Ländern ist es auch so, wie bei uns„, „Es ist zwar schlimm, aber es ist halt so„, „Wer im Internet unterwegs ist, muss mit Verlusten rechnen„
Dabei bleibt völlig unerwähnt, dass Verbraucher sich den notwendigen Schutz gegen solche aggressiven Angriffe oft gar nicht leisten können – weder finanziell noch organisatorisch. Der Staat aber lässt sie damit bewusst ohne effektiven Schutz zurück, obwohl er eigentlich die Pflicht hätte, sie zu schützen und zu stärken.
Diese mediale Form der Relativierung und Beschwichtigung hat weitreichende Folgen: Sie verschleiert das strukturelle Versagen und verhindert politischen Druck für grundlegende Reformen – sie verharmlost strukturelles Unrecht und trägt dazu bei, dass das Versagen der verantwortlichen Akteure im öffentlichen Bewusstsein verschwindet. Die Folge: Verbraucher bleiben allein mit ihrer Ohnmacht, während die eigentlichen Ursachen und Verantwortlichen ungeschoren davonkommen. So wird aus einem systemischen Problem eine scheinbar individuelle Herausforderung gemacht.
In einem Artikel vom 04.07.2024 der Stiftung für Zukunftsfragen las ich Folgendes:
„Eine allgemeine Kundenzufriedenheit lässt sich nicht nur an einer möglichst breiten Angebotsauswahl festmachen. Von entscheidender Bedeutung ist auch die Gewissheit, einen guten Service beim Einkauf vorzufinden. Zu diesem Service zählen beispielsweise eine kundenfreundliche Ausstattung, übersichtliche Gestaltung der Verkaufsräume sowie geringe Wartezeiten beim Bezahlen, vor allem aber zugewandte, freundliche, kompetente und geduldige Verkäufer. Dieser Erwartungshaltung wird der Handel in den letzten Jahren nicht mehr gerecht.“
Man vergisst leicht und gern, dass Service nicht mit dem Kauf endet – er beginnt dort erst wirklich. Doch in vielen Bereichen unserer Gesellschaft scheint dieser Gedanke verloren gegangen zu sein. Bei Fluggesellschaften stockt das Online-Check-in, am Telefon wird der Ton rau, bisweilen autoritär. In Banken endet Kundenorientierung oft mit der Unterschrift unter dem Kontoantrag. Und im öffentlichen Sektor – bei Behörden oder staatsnahen Organisationen wie Krankenkassen – wird der Bürgerservice zum Bürgerauftrag: Formulare, Nachweise, Doppelarbeiten. Entlastet werden soll das System – belastet wird der Mensch. In unserer Demokratie tragen die Bürgerinnen und Bürger die Last: in Steuern, in Zeit, in Geduld – in Formularen, Nachweisen und Doppelarbeiten. Alles scheint darauf ausgerichtet zu sein, ihnen zu zeigen, dass sie weniger zählen, als Staat und Unternehmen sie glauben machen. Jene wiederum handeln oft so, als dürften sie sich alles erlauben – ohne Verantwortung für die Folgen zu übernehmen.
Wenn ein Staat und Unternehmen beginnen, ihre Bürger/Verbraucher als Belastung zu betrachten, statt als ihre Grundlage, wiederholt sich ein altes Muster. Schon in früheren Krisen gab es Gruppen, die man an den Rand drängte – Kranke, Schwache, vermeintlich Unproduktive. In den frühen Jahren der AIDS-Epidemie wollte man Betroffene isolieren, statt sie zu schützen. War es Angst oder politischer Aktionismus, die den Menschen die Menschlichkeit nahm?
Heute ist es vielleicht nicht mehr die Krankheit, sondern die Gewinnsucht der Unternehmen, Profilierungssucht von Politikern und Beamtern, Bürokratie, die trennen. Wieder entsteht die Gefahr, dass der Mensch dem System geopfert wird – aus Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit, etc.. Und genau dort beginnt der moralische Verfall eines Staates.
Es ist bemerkenswert – und zugleich alarmierend –, wie selbst seriöse Medien wie Der Spiegel 2010>>> über Internetkriminalität berichten. Zwar werden die Probleme benannt: die Ohnmacht der Betroffenen, die zunehmende Raffinesse der Betrugsmaschen und die wachsende Verunsicherung der Verbraucher. Doch geschieht dies oft in einem Ton, der die Dramatik der Situation stark relativiert.
Diese Tendenz setzt sich bis heute fort. Aktuelle Berichte, etwa im Focus-Magazin>>> unter der Überschrift „Weder Boomer noch Gen Z: Das sind die größten Verlierer beim Betrug im Internet“, zeigen auf, welche Generationen besonders betroffen sind. Ein aktueller Artikel der „Welt“>>> ergänzt dieses Bild mit Warnungen und Schutztipps von Verbraucherschützern – doch Forderungen nach systematischen Veränderungen oder einer Stärkung der Verbraucher durch echte Schutzmechanismen, wie wir sie im Projekt „Verbraucherhilfe-direkt, individuell, kostenlos“ vertreten, bleiben aus.
Eine entscheidende Frage bleibt in all diesen Berichten unbeantwortet: Wo bleibt die kritische Auseinandersetzung mit den eigentlichen Verantwortlichen – dem Staat und Unternehmen wie Banken –, die in der Pflicht stehen, Verbraucher wirksam vor solchen Angriffen zu schützen? Stattdessen entsteht der Eindruck, jede*r müsse sich alleine vor Betrügern schützen.
Diese Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum ist Teil eines größeren Problems: Was eigentlich Anlass für politischen Handlungsdruck und mediale Wachrüttelung sein müsste, wird sprachlich entschärft – verharmlost, verschoben und als unvermeidliche Normalität dargestellt. Der strukturelle Charakter des Problems verschwindet hinter der Fassade individueller Einzelschicksale.
Genau hier liegt das Kernproblem: Was eigentlich Anlass für politischen Handlungsdruck und mediale Wachrüttelung sein müsste, wird sprachlich entschärft – verharmlost, verschoben und als normal dargestellt. Der strukturelle Charakter des Problems verschwindet hinter der Fassade individueller Einzelschicksale.
Verbraucher, die von Betrug betroffen sind, werden nicht als Teil eines Systems gezeigt, das sie im Stich lässt – sondern als Einzelne, die „halt Pech hatten“. Die Verantwortung für Sicherheitslücken und fehlende Schutzstrukturen, die es dem Verbraucher ermöglichen würden, sich individuell zu verteidigen, wird schleichend vom System auf das Individuum abgewälzt.
Diese mediale Normalisierung von Missständen ist hochproblematisch. Sie entlastet nicht nur die eigentlichen Verantwortlichen – Banken, Unternehmen, Behörden und Gesetzgeber –, sondern zementiert auch den Status quo. Die Botschaft lautet: Es ist zwar schlimm – aber eben nicht anders machbar.
Wer auf dieser Basis politisch oder juristisch etwas verändern will, muss gegen eine doppelte Wand kämpfen: gegen die strukturelle Verantwortungslosigkeit der großen Akteure – und gegen die gesellschaftliche Resignation, die durch solche Berichterstattung mitgeprägt wird.
Die Fakten sind eindeutig: Die bürokratischen Hürden für Rückerstattungen bei Betrugsfällen sind hoch, die Beweislast liegt beim Opfer, und viele Banken lehnen Verantwortung routinemäßig ab. Wer sich wehren will, braucht Zeit, juristisches Wissen und oft Geld – Ressourcen, die viele Einzelpersonen, gerade in schwierigen Lebenslagen, nicht haben.
So entsteht ein System der Ohnmacht – nicht, weil Gesetze fehlen, sondern weil der Zugang zu ihnen in der Praxis für viele unerreichbar bleibt. Und die Medien leisten ihren Beitrag, wenn sie die tiefen strukturellen Ursachen solcher Zustände nicht klar benennen.
Unser Projekt „Verbraucherhilfe-direkt, individuell, kostenlos“ will genau dort ansetzen:
- Nicht weiter beschwichtigen, sondern benennen.
- Nicht relativieren, sondern Verantwortung fordern.
- Nicht mit der Ohnmacht abfinden – sondern konkrete Wege aus ihr aufzeigen.
Relativierung hilft niemandem.
Wenn ein Konzept wie das des Verbraucherschutzes nur dann aufflammt, wenn es medienwirksam ist, und ansonsten als Randthema verschwindet, dann ist das keine aufgeklärte Gesellschaft – sondern eine, die das Problem ignoriert, bis es wehtut.
Fazit
Relativierung und Beschwichtigung ist Teil des Problems – sie verschleiern das Machtgefälle, schlagen Mauern aus Worten, wo Taten nötig sind.
Wir bestehen darauf: Die Missstände sind nicht normal, sie sind Ausdruck eines Systems, das wegguckt und abwehrt.
Und wir insistieren: Verbraucherschutz ist kein Luxus, sondern ein Recht – das wir gemeinsam durchsetzen müssen.