Herr K.U. erfüllte alle Voraussetzungen für den höchsten Pflegegrad. Dennoch ließ die zuständige, staatsnahe Krankenversicherungsorganisation ihn sterben, ohne ihm die ihm als Bürger und gesetzlich Versicherter zustehenden Leistungen zu gewähren.
Erst nach seinem Tod – nachdem ich den Versicherer darüber informiert hatte – wurde ihm rückwirkend der höhere Pflegegrad zuerkannt. Ich habe diese postume „Anerkennung“ abgelehnt. Ein postumer Vorteil – für wen? Für den Verstorbenen jedenfalls nicht. Ist ein solches Vorgehen mit den Grundsätzen von Anstand, Verantwortung und Rechtsstaatlichkeit vereinbar – sei es für die Versicherung oder den Staat?
Ich habe die Krankenkasse mehrfach um eine nachvollziehbare Erläuterung gebeten – wie es zu dieser Entscheidung kommen konnte und warum auf wiederholte schriftliche Bitten um Bearbeitung des Pflegegraderhöhungsantrags zu Lebzeiten nicht reagiert wurde. Bis heute habe ich keine Antwort erhalten.
Als einzelner Mensch war er für das System ziemlich wertlos geworden, denn das System verhielt sich ihm gegenüber so, als ob er es stören würde. Seine tatsächlichen Problemen, obwohl er im Rahmen seiner Rechte nach Sein Schrei nach Gerechtigkeit
Als einzelner Mensch war er für das System offenbar wertlos geworden. Es behandelte ihn, als störe er – als sei sein Leiden eine Belastung, nicht ein Auftrag zum Handeln. Seine tatsächlichen Probleme waren für die zuständigen Stellen vollkommen uninteressant, obwohl er im Rahmen seiner Rechte Hilfe suchte.
Er hatte recht – juristisch, moralisch, menschlich. Aber er bekam es nicht. Warum? Weil er arm war. In der reichen Bundesrepublik Deutschland.
Hätte er Geld gehabt – oder hätte es eine starke Vertretung wie die von uns angestrebte Initiative gegeben –, wäre er heute vermutlich noch am Leben. Denn er war wach, klar, lebenswillig – körperlich und geistig in erstaunlich gutem Zustand für sein Alter.
Er muss alles mitbekommen haben, als man ihm eine Opioidspritze verabreichte. Ob diese medizinisch notwendig war, bleibt fraglich. Bis heute habe ich das offizielle Dokument, das die Todesursache attestieren soll, nicht erhalten. Selbst diese grundlegende Information wird mir verweigert – als ob auch nach seinem Tod noch Verschleierung statt Aufarbeitung betrieben würde.
Es scheint wirklich so zu sein, wie ich in Krankenhäusern und im Altenheim oft hörte: „Er ist schon sehr alt.“ Alt war er zwar, doch zugleich auch erstaunlich fit. Alt zu sein bedeutet niemals, dass man besser sterben muss. Er sagte mir einmal: „Es ist ein Fehler, in Deutschland alt zu werden.“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
So beginnt Artikel 1 des Grundgesetzes – und gilt als Fundament unserer Verfassung.
Doch ab welchem Alter gilt dieser Satz noch wirklich?
Ab wann oder in welchen Situationen ändert sich das, was in diesem Paragraph steht, frage ich mich rhetorisch.
Herr K.U. wurde 101 Jahre alt. Im Verlauf seines Leidenswegs bat er mich eindringlich, seine Geschichte öffentlich zu machen – damit sein Ruf nach Gerechtigkeit gehört wird, und damit andere wachsam werden: gegen die Gleichgültigkeit, die in unserem Sozialsystem längst Einzug gehalten hat.
Deutschland – in all seinen politischen Systemen – wusste sich in früheren Zeiten seiner Hilfe zu bemächtigen. Er hat dieses Land mitgetragen, mitgeformt, mitgestützt – und musste am Ende dennoch ziemlich würdelos sterben. Ihm hat Artikel 1 des Grundgesetzes nicht geholfen. Als Einzelbürger war er machtlos, ohne die nötigen Mittel, gegen ein System zu kämpfen, das seine Verbraucherrechte* missachtet hat.
Er starb im März 2024. Er hätte nicht sterben müssen.
Seine Geschichte als Bürger, Individuum, gesetzlich Versicherter, Patient und Heimbewohner wird hier erzählt – nicht nur als Erinnerung, sondern als Mahnung.
*) Im Sinne des Projekts Einzelbürger Stärken: www.einzelbuger-starken.de>>>